Lieber Kalle, Liebe Freunde, Sehr geehrte Trauergäste,
Die Bösartigkeit des Todes besteht in der Überraschung!
Nachruf für Hanspeter Bethke.
Und da würde schon Peters Zwischenruf niederplautzen … dass ein Nachruf so etwas wäre, wie hinter vorgehaltener Hand zu hecheln oder so.
Sollte ich vielleicht mit eigener Eitelkeit beginnen? Ich kannte ihn seit 1970. Genauer müsste es heißen, ich traf den 1935 in Magdeburg Geborenen, als bärtigen Faun im Dessauer Schlösschen Luisium. Der Sommer war heiß, dem Restaurator war heiß, und aus dem Mund des Fremden, des Künstlers, sprudelten die Worte, verzauberten den Pennäler. Für mich war es ein Weckruf, die Aufforderung, die zahmen Bahnen vorgezeichneter Lebenslinien zu übertreten.
Wer war dieser faustisch quirlige Hanspeter Bethke, der auf der staubigen Rüstung, im weißgrauen Feinrippunterhemd, diesen fesselnden Wortteppich zum Fliegen brachte?
Zwischen den Daten, 10. Oktober 1935 und 7. Februar 2018, lassen sich Fakten verorten — wie: 1942 Umzug nach Langenstein bei Halberstadt, weil die Familie in Magdeburg ausgebombt wurde und doch jedes Mal, wenn sie in Magdeburg zu Besuch bei der Verwandtschaft waren, in Bombenangriffe gerieten, im Keller saßen und dachten, dass sie nicht lebend rauskommen.
Dass er in Langenstein die Häftlinge des dortigen Konzentrationslagers erlebte und diese Erinnerung stets so kommentierte: ALLE wussten es.
Oder dass er die zwei Schwestern, Bärbel 1940 und Ute 1946 geboren, im Kinderwagen schieben musste, den Mann im Hause zu ersetzen hatte, weil der Vater erst 1945 aus dem Krieg heimkehrte.
Dass er in der ersten Klasse neben kernigen Nazisprüchen den Eintrag im Zeugnis bekam, still, ernst und strebsam, einordnungsbereit und wohl erzogen zu sein.
Dass die Familie 1947 nach Halle umzog, wo der Vater erst als Chauffeur bei der Landesregierung und später bei der Reichsbahn arbeitete und die Mutter zu Hause als Näherin Geld dazu verdiente und er, als der Älteste der Kinder, weiterhin die Verantwortung für seine Schwestern zu tragen hatte.
Dass Hanspeter von je her gezeichnet hat und mit 14 Jahren, 1949, sein erstes erhaltenes Bild, mit geschenkten Silicinfarben gemalte Ansicht von Langenstein, signierte.
Dass eine belesene Deutschlehrerin, Fräulein Krause, Schrothexe genannt, ihren Schülern ein Unmaß an Gedichten und Liedern lernen ließ, die bis ins hohe Alter in seinem Gedächtnis blieben.
Dass er mit 12/13 Jahren Geigenunterricht bekam und dass es Pflicht war, dem Musiklehrer Donner Kohlen mitzubringen, um nicht im Kalten unterrichtet zu werden. Dass ihn, der mit 7 Jahren schon sein eigenes Beet besaß, Biologie besonders interessierte und er sich sehr im Schulgarten engagierte. Und dass er daneben natürlich immer „male male machte“, seine Alpenlandschaften und Blumenbilder von Postkarten abpinselte und verkaufte.
Dass er sein Abitur an der Schule der Franckeschen Stiftung ablegte. Dass er 1953 seine Mappe mit den Alpenlandschaften und Blumenbildern dem Rektor der Burg Giebichenstein vorstellte, der Kitsch Kitsch nannte und dennoch Hanspeter zur Teilnahme an der Aufnahmeprüfung riet.
Dass er von 1954 bis 59 an der Burg Giebichenstein in Halle im ersten Studienjahr bei Zitzmann und Sitte und später bei Bunge studierte.
Dass er besonders diese Zeit der 50iger und 60 Jahre als eine Zeit mit äußersten Regle- mentierungen empfand, als die Ideologie des Bitterfelder Weges und des sozialistischen Realismus´ Funktionäre ermächtigte, Bilder abzuhängen und Ausstellungen zu schließen.
Dass er seit 1959 als Baurestaurator arbeitet und als freier Maler und Grafiker lebte.
Dass er seinen Garten in Halle bearbeitete und, bis 1967 beim Restaurator Naumann angestellt, Kirchen restaurierte, eine Arbeit, die seinen ästhetischen Blick und seine handwerklichen Fähigkeiten noch einmal schärfte und förderte.
Dass er 1967 in den Verband der Bildenden Künstler der DDR aufgenommen wurde und er sich als Restaurator selbstständig machte. Diese Kirche hier ist Anfang der 70iger unter seinen Händen und durch die Hilfe mancher Freunde so geworden, wie sie sich noch heute zeigt.
Dass er bis 1980 als Restaurator arbeitete und dann sagte: Schluss! Und dass er 1967 begann, in der Reisetasche Pflanzen per Zug nach Saxdorf zu schleppen. Dorthin, wo Karl Heinrich Zahn, den er im Herbst 1965 kennenlernte und zu lieben begann, eine Pfarrstelle besetzte.
Doch diese Aufzählung beginnt erst lebendig zu werden, zu erblühen, wenn man sich in das mittlerweile legendäre Foto des blumengießenden fünfjährigen Jungen vertieft, der als junger Mann aus einer Schrebergartenparzelle am Eierweg einen überreich blühenden Dschungel unter dem grauen hallischen Himmel wuchern ließ, und dessen darin versteckte rote Laube eine Oase der Freiheit, eine Schutzhütte gegen den spießigen Mief manch normaler Leute war.
Stück um Stück werden Pflanze um Pflanze, Idee um Idee aufs flache Land gebracht. Der Maler und der Pfarrer gehen gemeinsam mit einer entwaffnenden Selbstverständlichkeit aufs Dorf, als gäbe es keine Vorurteile. Unter dem Dach des Pfarrhauses, wo sie Tisch und Bett teilten, begann etwas darüber Hinausgehendes zu keimen.
Doch der Gärtner ist nicht denkbar ohne den Maler und Grafiker. Mir ist immer noch mein Staunen gegenwärtig, als Hanspeter in seinem Zimmer in der Langestraße in Halle eine große Truhe öffnete, Bild um Bild hervorkramte und mir zeigte. Solche hatte ich, der aus einer Proletenfamilie stammend und in der Dessauer DDR aufgewachsen war, so noch nicht gesehen. Die Freiheit, mit der die Farbe die kleinen Pappflächen zum Glühen brachte, überwältigte mich. Und das Erlebnis wäre nicht vollständig erklärt, würde ich seinen nicht enden wollenden Redefluss unerwähnt lassen. Und wie er reden und wie laut er dazu lachen konnte!
So wie der Saxdorfer Garten eine überbordende Menge an Pflanzen in einem scheinbaren Wirrwarr sich ständig wandelnder Themenareale verkraften musste, genau so mäanderte sein queres Denken um ein gesetztes Thema. Immer neue Impulse und Gedankensplitter kreisten in des Wortes doppelter Bedeutung um das ihn Interessierende. Ich würde Hanspeter diese Eigenschaft in seinem Sinne mit „kommunikationsgeil“ in den Mund legen wollen. Wer einmal Hanspeters Interpretationen des Groddeckschen ES erleben durfte, dieses flutende Reden über Unbewußtes, über Triebe von Nahrung, Sex und Tod, über Libido, Affekte und Komplexe, der findet darin die Erinnerung an sein Nichtlineares Weltbild.
Er war dreist genug „gute Mutter“ auf „gute Butter“, die rutschige Schmiere des Lebens, zu reimen und sich selbst immer wieder in Frage zu stellen. Er signalisierte damit, dass eine Deutung im Nachhinein, Hass und Liebe, Esslust und Mäßigung und andere in ihm wühlende Gegensätzlichkeiten nicht zur Ruhe bringen können. Ein starker Geist, der sich seiner Schwächen immer bewusst war und das lose Maulwerk trefflich nutzend, schützend und verteidigend stets den Austausch mit Menschen suchte. Rechthaberisch bis ins Gegenteil. Manchmal vielleicht genial in seiner Gedankenakrobatik. Man konnte manches an Hanspeter bemäkeln, aber eines nicht: Er war nie langweilend, sondern charismatisch und vielwissend, polarisierend, manchmal bis zur bitteren Konsequenz des beleidigten Rückzugs des Angesprochenen.
Oder wenn er die Zahlensymbolik zu seiner zeitweiligen Passion kürte, dann war nichts und niemand vor seiner Einfalt und Deutungsvielfalt gefeit. Er war sich nicht zu fein, auch in den dunklen Geheimnissen oder vermeintlichen Abgründen seines Gegenübers wie ein ungläubiger Thomas herumzustochern. Ein Thema auszuweiden, seine Freunde und Bekannten werden sich noch gut daran erinnern, verschaffte ihm offensichtliches Vergnügen. Sein Hunger nach Assoziationsketten, Synonymem und immer neuen antagonistischen Syllogismen schien unstillbar zu sein. Da zeigte sich bei Hanspeter Bethke die gleiche Maßlosigkeit wie beim Gärtnern oder bei seiner Bestellwut in den späteren Jahren, als das geeinte Deutschland des Gärtners Herz höher schlagen ließ, ob all der Möglichkeiten der Beschaffung von Pflanzmaterial – dem Schöpfen in beinahe messiehafter Gier aus der sprichwörtlichen kapitalen Überfülle.
Die Zeit nach der Wende 1989 machte Saxdorf zu dem, was es heute ist. Ein Werk zweier Menschen, eines Paares, dem die Gesetzgebung neuerer Zeit auch öffentliche Legalität verschaffte und das es vermochte, viele Freunde unter dem Zeichen von „Kunst und Kultur“ zu versammeln und durch die Kraft dieser Vielen den Saxdorfer Garten zum Erblühen brachte. 1992 wurde der Verein Kunst und Kultur Sommer Saxdorf e.V. für die Rettung einer Idee, verbunden mit der Hoffnung, dass die Kunst breiteren Raum einnehmen könnte, gegründet. Aber wie hat er in einem Gespräch gesagt: „Das Ideal geht nie auf. Träume, die aufgehen, sind keine Träume mehr. Ich habe nie geträumt, dazu bin ich zu realistisch.“ Und: „Warum habe ich all die Lexika fast auswendig gelernt? Weil, ohne Bildung ist im Grunde alles Scheiße.“
Und nun, wo Hanspeter nicht mehr als prophetischer Berg, bunt angetan, mit zierlichem Zöpfchen, das Publikum, Eintritt abkassierend, doch umsonst mit flotten Sprüchen und Worten versorgend, empfängt, da möchte ich an dieser Stelle auch Bedauern darüber ausdrücken dürfen, dass er in den letzten Jahren seiner Malerei so wenig Zeit gegönnt hat. Ich hätte mir gewünscht, dass er das zum Geburtstag geschenkte Schild: „Bitte nicht stören, der Meister gießt nicht, der Meister schöpft!“ als Schirm gegen die Gartenbesucher und als Schutz für das Wachsen seiner Kunst genutzt hätte. Unvergessen die unbeschwerte Zeit, welche die zum Plein Air versammelten Künstlerfreunde in den siebziger und achtziger Jahren hier verbrachten. Das Schutzgebiet des Saxdorfer Pfarrgrundstücks lockte auch so manchen Späher an. Selbst die Männer der Freiwilligen Feuerwehr gingen hinter der Hecke auf die Knie, spannten die Augen auf, um am fröhlichen Treiben der Künstler beim Aktzeichnen teilzuhaben. Musiker wurden dazu geladen. 1974 zur Einweihung der restaurierten Kirche trommelte Günter „Baby“ Sommer die Saxdorfer Konzerte ein.
Das Bild der Tänzerin Fine, die zu Jazztakten unterm Tuch aus dem gotischen Taufbecken erschien, diesen Kirchenraum hier tanzend eroberte, bleibt für mich als zweites Geburtszeichen der Saxdorfer Sommerkonzerte im Gedächtnis. Dabei darf man nicht die Reglementierung des Kulturlebens in der DDR außer Acht lassen. Es saß auch so mancher dörfliche Gast zu den Konzerten in der Kirche, die nach der Wende nie mehr gesehen wurden. Bezahlt wurden die Musiker mit dem Geld aus Spenden und den Blumensträußen aus dem Garten, die zum Beispiel am Vorabend zum 8. März, dem Internationalen Frauentag, vom Pfarrer Karl-Heinrich Zahn in Leipzig auf der Straße verkauft wurden und die fraglos reißenden Absatz fanden.
Und stets, als sei es naturgegeben, konnte man Hanspeter als den Spiritus rector dieses Saxdorfer „Frei“landes kaum in Frage stellen. Und das war nicht nur seinem wortreichen Wissen etwa über Musik, Botanik oder Kunst geschuldet, sondern es speiste sich ebenso aus zwiespältiger Schwäche und gewalttätiger Harmoniesucht. Ein ganzer Mensch also, in all seiner Größe und Kleinheit, dem manchmal der Mut fehlte, der aber trotz alledem Held sein konnte. Und der seine Magie auch durch die Liebe seines Karl-Heiners gewann, ohne die Hanspeter durch all die Jahre nicht hätte leben können. In dieser innigen Verbindung zweier Menschen, die unterschiedlicher nicht sein konnten, ist ein gemeinsames Werk entstanden, welches vor allem auch dem Reich der Utopie entwachsen und materialisierte Vision geworden ist.
Hanspeter ist die Last des Lebens genommen und du, Karl-Heiner, musst nun euer beider Bürde allein tragen. Mir ist bewusst, wie einseitig, vereinzelt das Erinnern an einen Menschen in einem Nachruf aufblitzt. Aber ich hoffe, dass Sie, liebe Trauergäste, dieses Erinnern lange Zeit fortschreiben. Das ist ja das Zeichen des Lebens: Der Lebende trägt bis zur letzten Sekunde Hoffnung in sich.
Ich weiß nicht, Hanspeter, wo du jetzt sein könntest. Ob Freund der Würmer oder des Paradiesgärtners rechte Hand. Eines ist aber sicher: Keiner, der dich kennen durfte, wird erinnerungslos zurückbleiben.
Ein letzter Witz im Bethkeschen Sinne sei mir erlaubt: Claudia, eine Freundin, fragte: „Hast du das selbst geschrieben oder ist das aus dem Abreißkalender?“ Die Antwort weißt du, Hanspeter Bethke!
Ich bezweifle, dass wir uns wiedersehen, aber wir sind uns begegnet. Und das ist gut. Dir, Karl-Heiner wünsche ich, dass dich die Liebe zu Peter noch lange weiterträgt.
Paul Böckelmann, 11.2.2018